Lied auf halbem Weg

Du bist gewachsen in diesen Jahren,
in diesen schrecklichen,
in diesen wunderbaren,
und auch die Tränen konnte
niemand dir ersparen.

Warum bloß nach alldem
hast du immer wieder Angst davor,
allein zu stehn?

War eine Zeit,
da hast du immer nur gelächelt
statt zu lachen,
warst niemals heftig, niemals kräftig,
niemals hart,
du hast dich abgemüht,
dich liebenswert zu machen,
und warst doch nie zufrieden damit,
wie du warst.

Da hast du immerzu
auf deine Chance gewartet,
daß du das Spiel ums große Glück
auch nicht verpaßt,
jedoch das Spiel ist längst gespielt
und abgekartet,
man nennt dich Sieger,
wenn du schon verloren hast.

Aber jetzt hast du gelernt,
auch einmal halt zu schreien,
und du weißt, du wirst dich notfalls
mit Gewalt befreien,
und anstatt auf vorgeprägtem Gleis
dich einzureihen,
gibst du endlich deinem Leben selbst Gestalt.

Du bist gewachsen in diesen Jahren,
in diesen schrecklichen,
in diesen wunderbaren,
und auch die Schmerzen konnte
niemand dir ersparen.
Und dennoch nach alldem
hast du immer wieder Angst davor,
allein zu stehn.

War eine Zeit,
da suchtest du nach einem Platz
an jemands Seite
und hast dich werbend stets
zum Opfer dargebracht.
Du suchtest einen nur,
der alles dir bedeute,
der dich erfüllt und der
dein Leben sinnvoll macht.

Da warst du allzusehr gewohnt,
dich zu verbiegen,
hast deine Sehnsucht
oft für seine Lust verkauft,
hast um des Friedens willen
deine Wut verschwiegen
und Sicherheiten für die Liebe eingetauscht.

Aber jetzt hast du gelernt,
auch einmal nein zu sagen,
hast den Mut, den nächsten Schritt einmal
allein zu wagen.
Du hast aufgehört,
nach irgendjemands Gunst zu fragen
und hast angefangen, einfach du zu sein.

Du bist gewachsen in diesen Jahren,
in diesen schrecklichen,
in diesen wunderbaren,
und auch die Scherben
konnte niemand dir ersparen.
Warum bloß nach alldem
hast du auch heute wieder Angst davor,
allein zu stehn?

© Claudia Mitscha-Eibl, A-2100 Korneuburg

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